Weltuntergangs-Geheul?

Der Artikel von Igor Steinle in den BNN vom 31. Juli mit der Überschrift „Klima-Realität: Es gibt keinen Anlass für Weltuntergangs-Geheul“ veranlasste Bernhard Tilemann, Mitglied des Orga-Teams des Klimabündnisses Karlsruhe, zu einer Replik in Form eines Leserbriefs – der leider nicht abgedruckt wurde. Deshalb veröffentlichen wir ihn hier im Wortlaut.

Leserbrief an die BNN zum Kommentar „Klima-Realität“ von Igor Steinle am 31.07.2023

Mit Weltuntergangs-Geheul habe ich den Kommentar des Fachjournalisten Igor Steinle vom 31.07.2023 zur „Klima-Realität“ gelesen (den Begriff „Weltuntergangs-Geheul“ verwendet der Autor selbst in seiner Zusatzüberschrift)! Sein Hauptanliegen scheint zu sein, die Auswirkungen des Klimawandels wie auch des Ressourcenverbrauchs auf unserer Erde immer wieder herunterzuspielen. Dies zeigt sich im vorliegenden Kommentar, aber ebenso in den früheren Kommentaren und Analysen des Autors. 

Zunächst zum aktuellen Artikel: Er schreibt, „einer der Hauptgründe für die Apokalypsen-Angst ist das Extremszenario ‚RCP8.5‘ des IPCC (Weltklimarats) eines ungebremsten Klimawandels, das als unrealistisch gilt“. Nur: Leider wird das RCP8.5 aus dem Jahr 2013, das eigentlich nur ein Szenario und keine Vorhersage ist, bisher am besten durch Messungen bestätigt. Außerdem passt es lt. aktuellem Stand der Wissenschaft bis in die Mitte des 21. Jahrhunderts auch weiterhin am besten zur derzeitigen und angekündigten Klimapolitik. Nebenbei frage ich mich, wieviel Prozent der Bevölkerung das RCP8.5 kennen und deswegen eine Apokalypsen-Angst haben? Viel wichtiger aber ist eine der Kernaussagen des aktuellen Syntheseberichts 2023 des Weltklimarats IPCC. Sie lautet: „Das Zeitfenster, in dem eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft für alle gesichert werden kann, schließt sich rapide.“

Herr Steinle schreibt: „Die Menschheit wird auch dann nicht untergehen, wenn die Erderwärmung um mehr als 1,5 Grad ansteigt.“ Da hat er recht! Bei einer Erwärmung um 2,0 Grad wird sie auch nicht untergehen. Aber er schreibt nicht über die Lebensbedingungen, die dann herrschen werden. Auch nicht über die gigantischen weltweiten Ströme von Klima-Flüchtlingen (im zwei- bis dreistelligen Millionenbereich). Auch nicht über die Klima-Kipppunkte, die dann erreicht werden. Dazu gehören etwa die großen Eisschilde auf Grönland und in der Westantarktis, die Atlantikzirkulation, der Amazonaswald oder die Korallenriffe. 

Die ersten globalen Kipppunkte werden bereits bei einer Erderwärmung von 1,5 bis 2,0 Grad erreicht. Und dieses Thema lässt sich nicht herunterspielen: 97 Mal steht der Begriff „Kipppunkt“ allein im ersten Band des aktuellen Weltklimaberichts von 2023! Dahinter steht die Tatsache, dass die Erderwärmung beim Erreichen solcher Punkte ja nicht stehenbleibt, sondern sogar noch verstärkt voranschreitet. Wir sprechen dann von 3 Grad und mehr. Das Überleben der Menschheit ist dann keineswegs mehr sicher. Technische Lösungen (siehe auch letzter Punkt dieses Leserbriefes) helfen nur eingeschränkt, da realisierte Kipppunkte bei einem Zurückfahren der Erderwärmung nicht direkt wieder unwirksam gemacht werden können, sondern nur mit einer sogenannten Hysterese. Das bedeutet, die Erdatmosphäre muss deutlich unter die jeweilige „Kipp-Temperatur“ abkühlen! Dabei sprechen wir von Zeiträumen von hunderten bis tausenden Jahren.

Nun zu früheren problematischen Aussagen von Herrn Steinle. Vor einigen Monaten schrieb er, die wissenschaftliche Studie „Grenzen des Wachstums“ von Dennis Meadows und Kollegen von 1972 hätte sich als falsch erwiesen. Dies ist eine Falschaussage! Im Gegenteil haben sich die Modellrechnungen des hochkarätigen Wissenschaftler-Teams als absolut korrekt erwiesen. Meadows hatte ja nicht dargestellt, wie weit etwa der weltweite Vorrat an Erdöl und Erdgas bis in die 1990er Jahre verbraucht sein würde. Er hatte Szenarien dargestellt, wie diese Entwicklung bei den damals bekannten Reserven verlaufen würde. Dazu hatte er ein systemtheoretisches Rechenmodell für die Beschreibung von riesigen, komplexen globalen Systemen entwickelt. In dem „30-Jahre Update“ der „Grenzen des Wachstums“ von 2004 wird der weltweite Erfolg der ersten Studie bestätigt, im Jahr 2023 bereits in seiner 8. Auflage! Und das „Update-Buch“ wird heute an US-Universitäten vielfach als Lehrbuch eingesetzt.

Übrigens, am 2. August 2023 war der diesjährige „Erdüberlastungstag“, an dem die für dieses Jahr verfügbaren ökologischen Ressourcen verbraucht waren. Im Restjahr werden wir also „Raubbau“ betreiben. Das betrifft unter anderem Rohstoffe, Trinkwasser und Nahrungsmittel, aber auch menschengemachten Müll und CO2-Emissionen.

Eine weitere problematische Aussage von Herrn Steinle: Er schrieb vor einiger Zeit, beim Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 hätten ja nur Politiker den Grenzwert von 1,5 Grad für die maximal zulässige globale Erwärmung festgelegt. Nach dem Motto, diese unkundigen Politiker hätte ja auch andere Zahlen „würfeln“ können. Demnach wäre das 1,5-Grad-Ziel ein eher beliebiger und daher irrelevanter Wert. Fakt ist, dass dieser Entscheidung u.a. der Fünfte Sachstandsbericht des IPCC (AR5) von 2014 als wissenschaftliche Basis zu Grunde lag. Und wichtig ist, dass die fachliche Empfehlung von einem Grenzwert von kleiner gleich 2,0 Grad, idealerweise aber von 1,5 Grad sprach. Umso bemerkenswerter, dass die aus der ganzen Welt angereisten Politiker sich mutig auf 1,5 Grad festlegten.

Herr Steinle spricht immer wieder von der Perspektive, oder besser Hoffnung, dass die „Bürger“ technische Entwicklungen vorlegen werden, die bei mehr oder weniger unverändertem Ressourcenverbrauch und Schadstoffemissionen auf technischem Weg „das Klima retten“ werden. Tatsächlich gibt es beispielsweise am KIT Karlsruhe einen Labor-Prototyp, der CO2 aus der Atmosphäre extrahieren kann. An der Universität Köln wurde der Prototyp eines „Methan-Hochdrucksaugers“ entwickelt, der das besonders umweltschädliche Methan in Stauseen absaugen kann. Auch in den USA laufen ähnliche Entwicklungen. Aber: Prototypen werden uns natürlich nicht weiterhelfen. Wir bräuchten weltweit großindustrielle Anlagen, um den Klimaschutz wirksam zu unterstützen. Und davon ist mir bisher nichts bekannt.

Ich wünsche mir in Zukunft von einem Fachjournalisten fachlich korrekte Kommentare und Analysen zu den Themen Klimawandel und globaler Ressourcenverbrauch, damit ich nicht wieder in „Weltuntergangs-Geheul“ ausbrechen muss!

Dr.-Ing. Bernhard Tilemann