Wurzeln in der Tiefe

(von Matthias Friedmann)

Die geplante Fällung aller 48 Platanen in der Kaiserstraße bewegt und berührt die Karlsruher
Bürgerinnen und Bürger. Menschen stellen sich vor und hinter die Bäume und stehen ihnen bei, dass
diese länger leben können. Die Bäume stehen für etwas, was in unserer technokratischen Welt oft
keine Rolle spielt. Bäume sind Lebewesen, sie sind für viele Menschen ein wichtiges Symbol der
Lebenskraft selbst. Bäume stehen da und strahlen etwas aus, nach was sich viele Menschen heute
sehnen. Beständigkeit, Ruhe, Aufrichtigkeit, Schönheit, Kraft, Zartheit, Fülle, für den Kreislauf des
Lebens, für lange Zeiträume, für unsere Zukunft. Gerade deshalb ist der Erhalt der Bäume auch ein
sehr emotionales Thema.

Die Platanen stehen seit über 40 Jahren in der Kaiserstraße und können nicht einfach irgendwo
anders hin wie wir. Sie sind den Kräften der Natur, den Jahreszeiten, Wind, Hitze, Kälte, Sturm,
Trockenheit, Schädlingen, Pilzen ausgeliefert. Sie sind auch dem Stress, dem Lärm, dem künstlichen
Licht, den Baustellen und dem unnatürlichen Klima der Innenstadt ständig ausgesetzt. Trotz alledem,
machen die Bäume einen vitalen Eindruck und leben größtenteils sicherlich noch viele Jahrzehnte.
Versetzen Sie Sich mal in das Leben eines Baumes in der Kaiserstraße, ich denke jeder kann das ein
Stück weit.

Doch für den Karlsruher Gemeinderat haben diese Bäume nun ausgedient und müssen einfach weg.
Weil es unter anderem natürlich viel einfacher ist, die neue Kaiserstraße in der Tiefe und auch an der
Oberfläche zu gestalten. Dieser Umgang steht für mich als Sinnbild für unseren Umgang mit der
Natur in unserer Gesellschaft. Und ich glaube ebenso fest daran, dass ein neuer wertschätzender
Umgang mit den Platanen eine Chance ist, einen neuen Weg als Gesellschaft einzuschlagen. Gerade
in der Stadt der Grundrechte stellt sich für mich die Frage nach dem Recht und dem Wert der Natur.

Ich selbst bin etwas älter als die Bäume und auch in dieser Welt aufgewachsen. Und mit
zunehmendem Alter wird mir auch bewusster, wie diese Welt mit Lebewesen umgeht die keine
Stimme haben. Es schmerzt mich in meinem Innersten, wenn Natur und insbesondere Bäume,
einfach so abgeschnitten und weggeworfen werden, einfach nur benutzt. Als am Vorplatz des
Staatstheaters über 30 große Bäume in zwei Tagen abgesägt wurden, hat es sich für mich wie eine
schmerzende Wunde in mir und in der Stadt angefühlt. Wie wenn ein Teil von mir mit Gewalt
genommen wurde. Kein Schild, kein Wort, keine Kerze, am Ort des Todes der Bäume. Einfach weg.
Damit wurde Karlsruhe ein schöner und natürlicher Platz genommen.

Die Bäume waren und sind für die Menschen und auch für die Tiere in der der Stadt da. Ich finde es
ist an der Zeit, den Platanen ein Gesicht zu geben. Und uns über den Wert und die Würde der Natur
zu unterhalten. Genau dies vermisse ich in der ganzen Diskussion. Jeder Baum ist ein Individuum und
ist anders gewachsen, genauso wie wir Menschen. Und in der Tiefe bei den Wurzeln ist dies genauso.

In der öffentlichen Diskussion am 6. Dezember im Gemeinderat, wurden die Bäume aber behandelt
als wären sie alle gleich. Und dass ist schlichtweg nicht richtig, nicht oberhalb und auch nicht
unterhalb der Kaiserstraße. Ich plädiere für einen individuellen und auch würdevollen Umgang mit
den Bäumen. Einen fürsorglichen Umgang, wie Eltern mit ihren Kindern. Für eine neue individuelle
Planung mit den bestehenden alten Platanen und mit den neuen jungen Bäumen. Bis die jungen
Bäume groß sind, können noch viele der alten Platanen dem weiten Raum der Kaiserstraße füllen.
Und so gemeinsam als Baumfamilie wie in der Natur aufwachsen.

Jede Platane und insbesondere auch deren Wurzeln kann und sollte individuell betrachtet werden.
Bei einer Operation kann auch erst nach dem offenlegen des Inneren entschieden werden was zu tun
ist. Dies wurde aber in Karlsruhe nicht gemacht und ist ja auch im Vorfeld nicht möglich. Sondern erst
wenn wirklich die Wurzeln freigelegt sind. Natürlich müssen Wurzeln teilweise gekürzt und vielleicht
auch einige komplette Bäume entnommen werden. Aber dies sollte individuell geschehen und die
Planung der Tiefbaumaßnahmen im Untergrund entsprechend individuell angepasst werden.

Das Hauptargument des Gemeinderats für das komplette Fällung der Platanen, waren die Wurzeln
und deren Beschädigung durch den Umbau. Doch genau an dieser Stelle, gab es auch die wenigsten
Fakten. Es konnte nicht einmal gesagt werden, welche Bäume in Betonringen gepflanzt wurden um
die Wurzeln damit hauptsächlich in die Tiefe zu leiten. Erst wenn man sich seiner Wurzeln bewusst
ist, kann man auch gute und ganzheitliche Entscheidungen für seine Zukunft fällen. Und genauso ist
es mit den Platanen der Kaiserstraße.

Und nicht nur dafür, sondern für viele Entscheidungsprozesse und der Gestaltung unsere aller
Zukunft, wäre der Blick in die Tiefe ein neuer Weg. Ein Weg heraus aus den vielen Krisen der
Gegenwart. Ein Weg ins Ungewisse, aber in eine neue Zukunft. Eine wirkliche Veränderung, benötigt
ein neues Denken und auch ein neues Fühlen.

Wir haben verlernt die Natur mit allen Sinnen zu erfahren, zu lieben und daher auch auf eine
gesunde Weise fürsorglich zu schützen. Die Natur und unser Leben selbst als Geschenk zu erkennen.
Ja auch wir sind Teil der Natur, doch das haben wir vergessen. Wir hatten noch nie so viel Wissen
über die Natur als heute und gleichzeitig auch noch nie so eine weltweite Zerstörung. Wir haben sehr
viel intellektuelles Wissen und wenig Weisheit. Wir beherrschen und benutzen die Natur und haben
verlernt diese zu bewahren und im Dialog zu gestalten. Wir empfinden uns weitestgehend getrennt
und unabhängig von der Natur, doch das Gegenteil ist der Fall. Doch wir spüren und fühlen es nicht
mehr. Die Bäume erinnern uns genau daran und wenn wir ganz tief ins uns hineinspüren, können wir
diese leise Stimme auch hören. Doch dafür ist es wichtig still zu werden von all dem Lärm unseres
Lebens. Und sich einzulassen auf ein Licht in unserer Tiefe und sei dieses noch so klein. Ein Licht in
der Dunkelheit unseres Lebens. Dass ist Botschaft von Weihnachten und dass sind auch unsere
Wurzeln. Und ist es denn nicht fast wie eine groteske Inszenierung, dass der Gemeinderat genau vier
Tage vor Heiligabend das letzte Urteil über die Platanen fällen möchte?

Wir haben unsere Wurzeln vergessen und nun ist es mehr als dringlich an der Zeit, sich genau daran
wieder zu erinnern und damit zu verbinden.

In diesem Spätjahr sind genau deswegen fünf indigene Botschafter aus Kolumbien nach Europa
gereist. Und haben innerhalb von 4 Wochen an 28 Orten in 4 Ländern 34 Veranstaltungen
durchgeführt, einen Großteil davon in Deutschland. Mit einem Zitat der Kogi aus Kolumbien möchte
ich meinen Text hier abschließen. Er beinhaltet die Essenz dessen, was mir am Herzen liegt.

„Die Erde wird schwächer, wir müssen sie schützen, wir müssen sie respektieren, denn der „Jüngere
Bruder“ respektiert nicht die Erde. Er denkt: Ja, hier bin ICH. Ich weiß viel über das Universum! Aber
dieses Wissen zerstört die Welt, zerstört alles. Es zerstört alle Menschlichkeit. Alle Gebirge liegen im
Sterben, den der „Jüngere Bruder“ zerstört sie, indem er Kohle und Öl daraus hervorholt und die
Erde überwärmt. Wir sind nicht dafür verantwortlich, aber wir leiden darunter. Ihr müsst die Erde
und die Welt verstehen lernen. Der „Jüngere Bruder“ muss und helfen, unsere Erde wieder
zurückzuerhalten. Helft uns das Herz der Welt zu schützen.“

Lasst uns gemeinsam und von den Kogis lernen die Natur und das Leben selbst wieder zu lieben, zu
wertschätzen und zu schützen. Der Umgang mit den Platanen ist dafür ein gutes Übungsfeld.

Matthias Friedmann (ein jüngerer Bruder) Karlsruhe, den 16.12.2022

Feedback gerne unter: naturwuerdeKA@posteo.de
Infos zu den Kogis: https://lebendigezukunft.org/
“Kreislauf des Lebens“ Doku ARTE : https://youtu.be/MKWS2mjwM0I

Diesen Text können Sie hier herunterladen.

Möchten Sie etwas dazu beitragen, die Platanen zu retten? Das Unterzeichnen der Petition ist ein guter Anfang!